Zuhören? Immer mehr ein (Zeit-)Problem. Dabei ist es für den Umgang miteinander so wichtig. Wenn vorgelesen wird, kann man es mit Genuss lernen – ganz bequem und phantasieanregend.
Konzentriert zuzuhören ist ja nicht ganz so einfach – bei all den Dingen, Stimmen und Geräuschen des oft hektischen Alltags. Kopfhörer sind ein verbreitetes Mittel zur Abschirmung. Anderen zuhören, wichtig fürs Miteinander, gerät leicht ins Hintertreffen. Wir sind dabei es mehr und mehr zu verlernen, sagen Kritiker. Erlernen hilft dagegen: Zuhören beim Vorlesen schätzen lernen.
Birgit Hünting ist ehrenamtliche Vorlesepatin an der Grundschule in Biemenhorst. Durch die Freiwilligen-Agentur ist sie dazu gekommen. Zweimal in der Woche liest sie Erst- und Zweitklässlern vor. Wenn sie zur Schule kommt, wird sie von Kindern freudig begrüßt. Sie genießen das Zuhören. Es ist mehr als leise zu sein, um Informationen aufzunehmen. Es bedeutet Ruhe und Lauschen in entspannter Atmosphäre. Allerdings: „Länger als eine halbe Stunde geht nicht“, sagt die Vorleserin. Dann ist eine Konzentrationsgrenze erreicht. Mehr als jeweils vier Kinder versammelt sie nicht um sich. Leicht könnte sonst Unruhe entstehen, wie sie bereits erfahren hat.
Nähe erfahren
Vorgelesen hat Birgit Hünting bereits ihren eigenen beiden Kindern, die inzwischen groß sind. Sie selbst hat das Vorlesen als Kind nicht erfahren, es sei wohl „Intuition“ gewesen, das als eine Art festes Ritual zu praktizieren. Sie hat gestaunt, dass ihre Kinder Vorgelesenes schnell auswendig aufsagten. „Sie haben früh gesprochen“, sagt sie und führt das auch auf das Zuhören zurück. Was sie und ihre Kinder beim Vorlesen gemeinsam genossen haben: „die Nähe“. Jetzt macht ihr das Vorlesen immer noch Freude. „Ich finde es schade, dass heute weniger vorgelesen wird“, sagt sie.
Das hängt auch mit der Verbreitung der digitalen Medien zusammen, die Bücher zunehmend ersetzen. Dabei werden ihnen Geschichten visuell und akustisch präsentiert, quasi fix und fertig, so und nicht anders, und das bedeute, sagt Benedikt Brömling, Rektor der Clemens-Dülmer-Grundschule, dass „die Konstruktion von Situationen im Kopf, die durch das Lesen eines Textes der Leser selbst unternehmen muss, den Kindern abgenommen“ werde. „Ihre eigene Phantasie wird durch die vorgefertigte Präsentation gar nicht erst benötigt, und Kinder können ihre Phantasie gar nicht richtig ausbilden.“
Phantasie, Orientierung, Lernen
Anders dagegen die Situation des Vorlesens und Zuhörens zuhause oder in der Schule. Innerhalb eines zunehmend regulierten Alltags beinhaltet sie für die Kinder Entspannung. Sie könnten sich zurücklehnen, die Augen schließen und sich in eine Phantasiewelt begeben, so Benedikt Brömling. Wenn das Vorlesen regelmäßig erfolgt, ist dies ein positiv besetzter Fixpunkt in der Alltagsstruktur, der schon vor dem Erlebnis ein Gefühl der Vorfreude auslöst und Kindern Sicherheit gibt.
Neben der Anregung von Phantasie geschehen dabei noch andere Dinge, wie Petra Langhorst, Konrektorin der Biemenhorster Grundschule, weiß: Mit dem Zuhören beim Vorlesen öffneten sich Kinder für neue Themen. „Ihre Vorstellung von der Welt wird erweitert“, sagt sie. Und: „Die Kinder lernen für sie neue Wörter kennen, ihr Wortschatz wird erweitert.“ Was dazu beiträgt, dass sie besser formulieren können, auch hinsichtlich der Satzbildung. Sie und ihre Kolleginnen und Kollegen „sagen den Eltern immer, dass sie ganz früh anfangen sollen vorzulesen, schon während der Kindergartenzeit, am besten täglich.“ Gleiches gilt natürlich auch für Großeltern, Geschwister oder Onkel und Tanten.
Bilder und Vorbilder
Auch der Kindergarten ist ein schöner Vorlese- und Zuhör-Ort. So wie etwa die Kita Blumenwiese. In kleinen Gruppen lauschen die Kinder dort Geschichten, die sie auch selbst aussuchen. Das sei für sie ebenso spannend wie entspannend, sagt Kita Leiter André Willmes. In diesem Alter spielen begleitende Abbildungen eine große Rolle, auch dabei, zu lernen, welche Dinge wie heißen. André Willmes ist dankbar dafür, dass es Vorlesepaten und -patinnen gibt, die dies ehrenamtlich leisten, Erzieherinnen entlasten und den Kindern viel (Vor-)Freude bereiten.
Vorleser und Vorleserinnen lassen Bilder im Kopf entstehen, sie sind quasi „Vorbildner“ und als solche zugleich Vorbilder, wie Benedikt Brömling sagt, weil sie mit viel Engagement davon überzeugen, „wie schön und entspannend es sein kann, durch das Lesen in eine andere Welt abzutauchen“, und weil das zum Selber-Lesen reizt – selbst Kinder, denen das Lesen schwerfällt. Beim Vorlesen erfahren die Zuhörenden: Das Lesen erschließt einem die Welt – für ausgleichende Entspannungsmomente, aber auch für Informationen, die für das Alltagsleben und die persönliche Orientierung unerlässlich sind.
Bei Birgit Hünting lesen die Kinder teils auch selbst – kurze Abschnitte. Und an der Annette-von-Droste-Hülshoff-Grundschule macht Dorothee Bienheim-Wolbrink, ebenfalls Lesepatin, die Zweitklässler zu Vorleserinnen und Vorlesern und begeistert sie so zu eigenem Lesen. “Ich finde es toll, was in den Büchern passiert“, sagt Solin (9), „vor allem wenn es spannend ist. Traurige Geschichten mag ich aber auch.” Zahra (9) liest am liebsten Pony-Geschichten, Mathilda (8) liest am Abend. “Im Urlaub habe ich mehr Zeit, dann lese ich auch tagsüber.” Ole (8) hat „hundert Seiten an zwei Tagen gelesen, weil das Buch so spannend war.” Und Amelie (9) ist auch zuhause gern in der Vorleserinnen-Rolle: “Ich lese meinem kleinen Bruder vor. Der schläft dann immer ein.”
Amouröse Anekdoten im Seniorenheim
Wenn wir älter werden, erfahrener, verlieren wir viel von dieser Unbekümmertheit und Freiheit der Kinder. Aber auch dann hat das Vorlesen und Zuhören seinen Reiz – bis ins Alter. Das kann erleben, wer im Bocholter Azurit-Seniorenheim lauscht, wenn dort Ulrike vorliest.
Ulrike hat ihr Berufsleben als medizinische Fachangestellte in einer Frauenarztpraxis hinter sich. Auch im Ruhestand wollte sie weiter für und mit Menschen arbeiten. Im Februar nahm sie an der ganztägigen Schulung der Fabi in Verbindung mit der Stiftung Lesen zur Lesepatin teil, und schnell war klar, dass sie im Seniorenheim vorlesen möchte. Seit dem Frühjahr liest sie jede Woche einer festen Gruppe von sechs Senioren im Azurit vor. Mit dabei ist jede Woche Eddi, Ulrikes fünfjähriger Deutschdrahthaar-Rüde.
Montags ist Vorlesetag
Obwohl einige aus der Gruppe noch selbst lesen, genießen die Bewohner die regelmäßigen Vorlesestunden mit Ulrike. Montags um 10 Uhr warten alle schon sehnsüchtig, dass die Lesepatin eintrifft. Bei schönem Wetter macht es sich die Gruppe im Garten des Seniorenheims gemütlich und wartet gespannt, was auf dem Leseprogramm steht. Heute sind es „Heiter-amouröse Anekdoten“. Ob der erste Urlaub am FKK-Strand, ein geheimer Besuch im Miederwarengeschäft oder ein unverhofftes Rendezvous mit Hindernissen – die humorvollen Vorlesegeschichten erzählen von kleinen Liebeleien, aufregenden Begegnungen sowie lustigen Begebenheiten zwischen Mann und Frau. Dem Thema entsprechend heiter sind auch die Reaktionen der älteren Herrschaften: Leises Gekicher, verschmitztes Lachen und süffisantes Grinsen machen sich in der Gruppe breit.
Zuhören regt zum Mitreden an
Einzelne Stichworte aus dem Text reichen aus, um Geschichten und eigene Erfahrungen von früher bei den Bewohnern hervorzurufen. Diese sprudeln dann förmlich aus der Gruppe heraus. „Schade, dass früher vorbei ist“, sagt Hildegard am Ende der Geschichte, und alle nicken zustimmend. Doch von Trauer oder Wehmut existiert keine Spur. Alle sind im Hier und Jetzt zufrieden und freuen sich, dass Ulrike noch mehr Vorlesegeschichten dabei hat. Auch Eddi profitiert von der positiven Stimmung. Er bekommt jede Menge Streicheleinheiten von allen Anwesenden.
„Vorlesen mit Ulrike ist Luxus, das haben wir ja nicht immer“, erklärt Dennis vom Pflegeteam. Er schätzt Ulrikes empathische und humorvolle Art und ist dankbar, dass sich die Lesepatin so liebevoll um die Bewohnerinnen und Bewohner kümmert. Der Vorlesevormittag ist unterhaltsam und kurzweilig, und die Zeit bis zum Mittagessen ist wie im Flug vergangen. Bevor die Gruppe von zwei Pflegerinnen wieder nach oben begleitet wird, gibt es noch einen Buchwunsch für die nächste Woche: Gedichte sollen es sein. – cw, jf –