Lagerfeuer-Romantiker, Gute-Tat-Menschen – Pfadfinder sind Klischees ausgesetzt, gelten manchen als aus der Zeit gefallen. Aber wieso gibt es dann noch 200 oder mehr von ihnen in Bocholt?
Gut, es waren andere Zeiten, als der britische Baron und Offizier Robert Baden-Powell zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Scouting-Bewegung ins Leben rief, die sich rasch weltweit verbreitete. Naturliebe, Abenteuerlust und soziale Einstellung verbanden sich dabei mit militärisch anmutenden Organisationsstrukturen und Erscheinungsformen. Nach einer wechselvollen Geschichte in Deutschland dominierte hier schließlich eine erklärtermaßen christliche Ausrichtung der Pfadfinder-Einrichtungen. 1929 wurde die katholische Deutsche Pfadfinderschaft Sankt Georg (DPSG) gegründet, bereits acht Jahre zuvor die Christliche Pfadfinderschaft (CP), der nach weiteren Gründungen schließlich 1973 der evangelische Verband Christlicher Pfadfinderinnen und Pfadfinder (VCP) folgte. Seit einigen Jahren gibt es auch einen Bund Moslemischer Pfadfinder und Pfadfinderinnen.
In Bocholt sind die meisten Pfadfinder-Stämme als DPSG-Mitglieder Bestandteil der Kinder- und Jugendarbeit in den katholischen Gemeinden Heilig Kreuz, Herz Jesu, St. Josef und St. Norbert. Der Katholischen Pfadfinderschaft Europas (KPE) gehört der Stamm Petrus der Fels an. Der Pfadfinderstamm NodAn ist Mitglied des evangelischen VCP. In all diesen Einrichtungen kümmern sich überwiegend junge Erwachsene ehrenamtlich um Kinder und Jugendliche ab sieben oder acht Jahren.
Ich und/oder die anderen?
Noch immer gibt es die Altersgruppen der Wölflinge, Jungpfadfinder, Pfadfinder und Rover mit Bezeichnungen wie Adleraugen, Rasende Hasen oder Feuerfüchse. Und nach wie vor auch die typische Kleidung, die Kluft mit den Aufnähern, die Halstücher. Und natürlich gibt es Zelte, Lagerleben und Lagerfeuer. Wie passt all das ins Heute, wo doch Individualität und Selbstbestimmung gepriesen werden? Und wo das von Robert Baden-Powell formulierte feierliche Versprechen, seine Pflicht gegenüber Gott und seinem König bzw. seinem Land zu erfüllen sowie „anderen Menschen jederzeit zu helfen“ oft nur als Lippenbekenntnis wahrgenommen wird. Wie geht mit unserer vielfach von Egoismus geprägten Welt seine Maxime zusammen, wonach Glück erlangt, wer andere glücklich macht? Lässt sich das durch noch so engagierte Gruppenleiterinnen und -leiter vermitteln?
Als ambitioniert könnte man die Zielsetzungen der Bocholter Pfadfinder-Stämme bezeichnen. Sie beinhalten zum einen die persönliche Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu selbstständigen Menschen, die ihre Stärken und Schwächen erkennen und in der Lage sind, mit Anforderungen und Herausforderungen umzugehen, wie Carolin Sprick, Gruppenleiterin beim Stamm St. Josef, formuliert. Mit eigenen Ideen und Kreativität, fügen die Herz-Jesu-„Pfadis“ im Internet hinzu, die auch auf „eine gewollt kritische Weitsicht“ hinwirken und darauf, sich „den Prinzipien der Pfadfinderbewegung auf Basis des christlichen Glaubens zu nähern“.
Damit verbindet sich die Wahrnehmung gesellschaftlicher Zustände, anderer Menschen und der Umgang mit ihnen. Die Pfadfinder von Heilig-Kreuz wollen „Bereitschaft zur Veränderung durch Reflexion und den Mut für Neues“ vermitteln, um angesichts der Herausforderungen in Gesellschaft, Umwelt und Kirche zur „Mitgestaltung einer menschenwürdigen Zukunft“ zu ermutigen. Lernen, Verantwortung zu übernehmen, gehört dazu. „Langsam an eine nachhaltige Lebensführung heranführen“ nennt Julia Niehues für den Stamm NodAn eine Zielsetzung, tolerant und offen gegenüber anderen zu sein eine andere. Gleichberechtigung, internationale Freundschaft, Solidarität und Gerechtigkeit, ökologisches Engagement und Einsatz für den Frieden sind weitere Stichworte, die sich bei St. Josef und Herz-Jesu finden.
Engagement und Spaß
Vermitteln lässt sich dies alles wesentlich über das auch von Robert Baden-Powell propagierte Learning by doing. Über Aktion und Erlebnis wie etwa bei Geländespielen oder dem Bau von Baumhäusern, aber auch in Form verantwortungsvollen Kümmerns um Menschen und wichtige gesellschaftliche Aufgaben über die Stammesgemeinschaft hinaus wie beim Adventssingen für ältere Menschen, Müll einsammeln oder Radwachen während der Bocholter Kirmes mit Erlös für verschiedene Einrichtungen und Initiativen (NodAn). Und natürlich auch über Spiel und Spaß – bei den wöchentlichen Gruppenstunden, beim Kanu-Fahren auf der Aa und vielem mehr. Kirche mitzugestalten (bei NodAn etwa Jugend- und Konfirmandenarbeit, Waldweihnacht, Überbringen des Friedenslichtes aus Bethlehem) ist ein weiteres Betätigungsfeld.
Für Robert Baden-Powell hatte Pfadfinder zu sein mit Abenteuer zu tun. Das ist auch heute noch so. „Abenteuer pur“ verspricht der Stamm Petrus der Fels, Klettern im Wald mit der Meute junger Wölflinge. Vielleicht wächst das Bedürfnis danach in einer zunehmend virtuell dominierten Alltagswelt. Was nicht bedeutet, dass das Angebot der Pfadfinder aktuelle Entwicklungen negiert. So gibt es etwa bei St. Josef schon mal eine DVD-Nacht, und das Handy kann bei der Orientierung im Gelände hilfreich sein.
Vielfalt und Abwechslung sind sicherlich ein besonderer Anreiz, auch gegenüber anderen Angeboten für Kinder und Jugendliche. Verbunden mit der im Alltag eher seltenen Erfahrung, „sehr frei zu sein und ausprobieren zu dürfen“, wie Carolin Sprick sagt. Die Kinder und Jugendlichen dürften sehr viel mitbestimmen, pflichtet ihr Henrike de Vries bei, Vorstand und Gruppenleiterin im Stamm St. Norbert.
Gemeinschaft als Kern
Ein weiterer wesentlicher Grund für die anhaltende Aktualität der Pfadfinderbewegung ist offensichtlich die Gemeinschaft. Die gibt es grundsätzlich zwar auch in anderen Einrichtungen und Vereinen. Aber die der Pfadis ist laut Homepage des Stammes Heilig-Kreuz einzigartig. Sie ist nicht begleitende Voraussetzung, um eine bestimmte Team-Leistung zu erbringen, sondern eigentlicher zentraler Inhalt. Besonders betont in der Namensgebung NodAn als Abkürzung für „Nie ohne die Anderen“. Auch neue Begegnungen und Kontakte zählen dazu – bei großen internationalen Pfadfinder-Lagern, sogenannten Jamborees oder auch beim regelmäßigen Austausch mit Pfadis in anderen Ländern. NodAn strebt dies nach einer kürzlichen Begegnung mit Doetinchem an, und im Sommer gab es in Bocholt ein weiteres deutsch-niederländisches Pfadfinder-Wochenende.
Gegen alle Klischees, gegen mögliche Kritik unzeitgemäßer Absichten, Zielsetzungen und Formen sind die drei zitierten Gruppenleiterinnen vom aktuellen Sinn und Erfolg des „Pfadfindens“ überzeugt. „Viele Kinder kann man da abholen“, sagt Julia Niehues zum Thema selbstverständlich geübte Toleranz. Kinder kämen oft gar nicht auf die Idee, dass etwas anders und deshalb problematisch sei, meint Henrike de Vries. Müll sammeln ist unter ihnen tatsächlich besonders beliebt – als aktiver spielerischer Wettbewerb. Das hebt bestehende Probleme nicht auf, wie auch sie erfahren, aber es kann zu einem selbstverständlichen und lösungsorientierten Umgang damit führen statt lediglich anzuprangern. Und apropos individuell kontra uniform: Das Sammeln verschiedenster bunter Aufnäher macht jede Pfadi-Kluft zum ganz persönlichen Outfit.
Positive Erfahrungen weitergeben
Carolin Sprick, Julia Niehues und Henrike de Vries begründen die Motivation sich zu engagieren aus den positiven Erfahrungen der eigenen Pfadfinder-Zeit. „Mir hat das sehr viel mitgegeben. Es ist mir ein großes Anliegen, das weiterzugeben“, sagt Julia Niehues. Und so „wächst man da einfach mit rein“, wie Henrike de Vries formuliert. Das ehrenamtliche Engagement macht ihr Spaß, besonders mit den Kleinen, die so stolz sind, wenn sie etwas herausfinden und lernen. „Spaß und Freude und hoffentlich ein bisschen Dankbarkeit“ sieht Julia Niehues als ihren Lohn. „Das Engagement erfüllt mich total“, sagt sie.
Nichts geht freilich von alleine. Die Gruppenleiter und -leiterinnen müssen sehr viel planen und vorbereiten, kreativ sein, die regelmäßigen Wochenstunden mit Inhalten füllen, sie müssen Verhalten einüben und Konflikte lösen. Sie sollen Vorbild sein und erziehen, und das empfindet Julia Niehues als „große Herausforderung und Verantwortung“. „Die meisten von uns sind keine Pädagogen“, sagt Carolin Sprick, aber es gibt Gruppenleiter-Kurse und Workshops für Teambildung. Ihre Schulungen durch Bezirk oder Diözese, so Henrike de Vries, würden alle vier Jahre aufgefrischt.
Die Bedeutung der Gemeinschaft setzt sich unter den Gruppenleiterinnen und -leitern fort. „Wir sind ein sehr großer Freundeskreis“, sagt Julia Niehues über das knappe Dutzend ehrenamtlicher NodAn-Mitarbeiter, die meisten davon Anfang bis Mitte zwanzig. Und auch ihre beiden zitierten „Kolleginnen“ schätzen die – auch privaten – Kontakte in ihren Teams. Indes: Sie könnten mehr sein. Immer wieder suchen welche von ihnen außerhalb Bocholts neue berufliche und/oder private Pfade. Mit mehr Gruppenleitern „könnte man noch mehr machen“, stellt Henrike de Vries fest. Zumal bei den zu den betreuenden „Pfadis“ kein Nachwuchsmangel zu herrschen scheint: Sie leitet jetzt auch eine Biber-Gruppe Vier- bis Fünfjähriger – das sprengt sogar die traditionellen klassischen Altersstufen der Pfadfinder-Bewegung. – jf –