Wie eine persönliche Situation eine Idee hervorbrachte, wie daraus eine Initiative wurde und schließlich eine besondere WG entstand.
Einsamkeit – unverhofft hat Corona vielen zumindest einen Eindruck davon vermittelt, eine Ahnung. Auch jungen Leuten, denen trotz Handy und Internet plötzlich etwas fehlte, verdammt fehlte: persönlicher Kontakt. Anhaltende Einsamkeit kann krank machen – wenn man nicht tun kann, was man möchte, nicht gebraucht wird, wenn keiner für einen da ist. Wir sehen oft nicht hin und schon gar nicht in sie hinein, aber es gibt viele einsame Menschen, und es werden mehr, auch ohne Pandemie. Angelika Schicks tut etwas dagegen. Nicht nur für sich, auch für ihre Mitmenschen. Sie hatte die Idee für ein Mehrgenerationen-Wohnprojekt und hat sie mit anderen gemeinsam verwirklicht.
Vor 15 Jahren, da war sie 59, hat Angelika Schicks angefangen, sich Gedanken über ihre Wohnsituation im Alter zu machen. Die gebürtige Essenerin, seit 1997 in Bocholt, lebte allein, ihre beiden Töchter waren inzwischen erwachsen und nach Münster und Brüssel gezogen. In solch einer Situation kommt manch einer unversehens „in die Jahre“ und ändert nichts mehr, aber sie wollte auch weiterhin „am Puls der Zeit sein“, wie sie sagt. „Ich wollte Trubel um mich.“ Lebendigkeit.
Ein bisschen wie Goethe…
Das Wohnprojekt der Beginen, zu denen sie Kontakt aufnahm, war nicht so recht nach ihrem Geschmack. Ihre Konsequenz: Eigeninitiative. Per Zeitungsannonce suchte sie Gleichgesinnte. Etwa acht bis zehn Interessenten meldeten sich und kamen zu einem ersten Treffen im Eiscafé. Es gab einige Fluktuation, aber schließlich waren sie ein Dutzend Leute, die 2015 einen Verein gründeten. Sein Name „Wahlverwandtschaft“ erinnert ein bisschen an Goethe und hat den schönen erklärenden Zusatz „Wunschwohnen in Bocholt e.V.“
Der eingetragene und gemeinnützige Verein „Wahlverwandtschaft“ freut sich über neue, auch über fördernde Mitglieder (mit Spendenbescheinigung). Kontakt: Angelika Schicks, Tel. 02871/4895600; E-Mail wahlverwandtschaft.e.v.-bocholt@gmx.de; Facebook: /Wahlverwandtschaft-Wunschwohnen-in-Bocholt-e-V-1443559682581556.
Es dauerte, bis die WohnBau ein geeignetes Grundstück fand. Es sollte innenstadtnah sein, die von der Stadtverwaltung zunächst angebotenen lagen zu weit außerhalb. Aber dann klappte auch das. Nachdem der Verein auch im Bauausschuss auf eine „total positive Resonanz“ gestoßen war, konnte an der Frida-Kahlo-Straße gebaut werden. Im August 2017 wurde damit begonnen, 16 Monate später waren die Wohnungen in den beiden Gebäuden des Wohnprojekts bezugsfertig: Sechs frei finanzierte Wohnungen von gut 40 bis 66 Quadratmetern sowie zehn geförderte Wohnungen für Bewohner mit Wohnberechtigungsschein zwischen etwa 50, 70, 80 und gut 100 Quadratmetern. Die „Wunschwohnungen“ waren „schlagartig belegt“, sagt Angelika Schicks. Es gibt eine Warteliste.
Von 1 bis 81
Ehepaare sowie Einzelpersonen unterschiedlichen Alters bilden die große „Wahlverwandtschaft“. Der älteste Bewohner wird 81, die jüngste Bewohnerin ein Jahr. Angelika Schicks, die in Essen Buchhändlerin für Kinder- und Jugendliteratur war und später zwei alte Damen gepflegt hat, ist die Vielfalt der Generationen generell, aber auch für sie persönlich wichtig. Als Bewohnerin der von ihr initiierten Wohnanlage findet sie es herrlich, wenn es nach dem Winter die Kinder mit ihren Rollern voller Freude hinaus zieht. „Mit Kindern entdeckt man das Leben neu“, sagt sie.
Die Pandemie hat allerdings auch das Wohnprojekt beeinträchtigt, das ja gerade auf das Miteinander setzt, das eine von allen nutzbare Rasenfläche zwischen den beiden Gebäuden einschließt und einen 60 Quadratmeter großen, hellen Gemeinschaftsraum, in dem sich die Kinder der musikalischen Früherziehung der Musikschule Bocholt-Isselburg regelmäßig gern treffen. Dabei entstand das Foto – mit ihrer Leiterin Lioba Igel (Mitte), der Vereinsvorsitzenden Angelika Schicks (links) und der zweiten Vorsitzenden Dilek Ayyildiz. Weiteres Mitglied im ehrenamtlich tätigen Vorstand des elf Mitglieder zählenden Vereins ist Anja Hartmann als Kassiererin. Der Vorstand ist für die Mieter quasi Bindeglied zum Vermieter WohnBau und um Angebote für die Bewohner bemüht. Spielenachmittage und eine Halloween-Feier mit Kostümen, Schminkaktion, Waffeln und Kakao fanden statt. Vorlesen, Basteln, Kochen und Grillen waren geplant, aber auch die Mitgliederversammlung für 2021 konnte nicht stattfinden und wurde jetzt im dritten Anlauf nachgeholt.
Verwandtschaft so oder so
Wichtig ist den Vereinsgründern ein Miteinander von Jung und Alt, anderen Kulturen und Familienformen, sowie Offenheit gegenüber allen Religionszugehörigkeiten oder Handycaps. Es gibt positive Beispiele. Großeltern und Enkelin mit zwei Urenkelinnen haben jeweils ihre Wohnung in der Anlage und sind so füreinander da. Und eine Bewohnerin nimmt in einer Familie quasi die Rolle der Oma ein. Wie unter Verwandten allgemein herrscht indes auch in dieser besonderen „Verwandtschaft“ nicht immer nur eitel Sonnenschein. Statt gegenseitiger Unterstützung habe es beim Zusammenleben „durchaus auch schon geruckelt“, sagt Angelika Schicks. Aber das entmutigt sie nicht. Es gelte, immer wieder aufeinander zuzugehen und Lösungen zu suchen.
Sie setzt darauf, dass sich das, was der Verein macht, rumspricht, dass die Mitgliederzahl steigt und dass sie Nachahmer zu ähnlichen Projekten anregen kann. „Man braucht ein soziales Netz“, sagt sie. Und dies sei „die Wohnform der Zukunft“. -jf –