Die Deutsch-Chinesische Gesellschaft in Bocholt besteht seit 25 Jahren. Was machen ihre Mitglieder, wo jetzt die Politik auf Distanz zu China setzt?
Völkerverständigung meint laut Duden eine „friedliche Übereinkunft zwischen den Völkern“. Nach dem Zweiten Weltkrieg hieß das Annäherung zur Vermeidung neuer Konflikte und bedeutet seither über Abkommen und Staatsverträge unter Politikern hinaus internationale Städtepartnerschaften, Reisen, zwischenmenschliche Kontakte über Grenzen hinweg, gegenseitiges interkulturelles Lernen, Abbau von Vorurteilen. Um Völkerverständigung gehe es der Deutsch-Chinesischen Gesellschaft in Bocholt, sagt ihr Vorsitzender Stefan Schlier. Wie aber soll das gehen angesichts unüberwindbar erscheinender Gegensätze, Konfrontation und zunehmender Kälte?
Erst Öffnung, dann Schließung
Es gab Zeiten, in denen der chinesische Öffnungsprozess auf positive Resonanz stieß. China-Reisen waren ein Thema und standen hoch im Kurs. Die Stadt Wuxi, etwa 140 Kilometer von Shanghai entfernt, knüpfte Mitte der 1980er Jahre Kontakte zum 8700 Kilometer Luftlinie entfernten Bocholt, Bocholter Unternehmen sahen wirtschaftliche Chancen und nutzten sie teils auch. 1997 gründete sich die Deutsch-Chinesische Gesellschaft in Bocholt. Vier Jahre später begann ein Schüleraustausch zwischen dem St.-Georg-Gymnasium und der High School No.1 in Wuxi, aus dem vereinzelt auch private Kontakte hervorgingen. Trotz einiger Skepsis in der Bocholter Politik mündete die Entwicklung 2003 in eine „Freundschaftsabsichtserklärung“ gegenüber Wuxi, das Bocholt einen chinesischen Pavillon schenkte.
Persönliche Begegnungen gab es, wenn Gruppen aus Bocholt, aus Politik, Verwaltung und Wirtschaft nach China reisten oder Gruppen aus Wuxi Bocholt besuchten. Anlässlich des zehnjährigen Bestehens der Deutsch-Chinesischen Gesellschaft absolvierten einige Bocholter per Autokorso 15000 Kilometer von Wuxi nach Bocholt entlang der alten Seidenstraße.
Seither hat sich China in zunehmend rasantem Tempo entwickelt. Es wurde zum Exportland Nummer eins und zum Investor unter anderem auch in Europa. Die Erwartung, dass das Land sich darüber hinaus für Begegnungen immer weiter öffnen würde, erfüllte sich nicht. Und jetzt, seit Ausbruch der Corona-Pandemie, gehe praktisch gar nichts mehr, sagt Stefan Schlier: „China war in den letzten drei Jahren von der Außenwelt so gut wie isoliert.“ Praktisch keine Reisen, kein Schüleraustausch, keine deutsch-chinesischen Begegnungen auch für die Deutsch-Chinesische Gesellschaft. „Es könnte kaum schwieriger sein als in dieser Zeit“, so der Vereinsvorsitzende.
Interkultureller Alltag
Nach seiner Ausbildung zum Diplom-Physiker ist der Bocholter für die Firma Siemens in München und Texas aktiv gewesen und dann zwei Jahre lang in Shanghai. Dort hat er seine Frau kennengelernt und geheiratet, ist 2005 nach Bocholt zurückgekehrt, wo er als Einkaufsleiter (Director Global Sourcing) für das Technik-Unternehmen Benning tätig ist. Seine Kinder, 17 und 14, wachsen dreisprachig auf – mit Deutsch, Chinesisch und Englisch - und mit verschiedenen Kulturen. In manchen Dingen des Familienalltags sei das mitunter „ein ganz schöner Balance-Akt“, sagt Stefan Schlier und lächelt dabei. Eine ganz schöne Bereicherung ist das auch.
Früher waren seine Schwiegereltern öfter hier, aber jetzt kommen sie nicht raus aus China, und er und seine Kinder kommen nicht rein. Nur seine Frau konnte dank ihres chinesischen Passes im vergangenen Jahr ihre Eltern besuchen, „zu der Zeit waren die Corona-Beschränkungen innerhalb Chinas noch relativ freizügig“.
Gemeinsamkeit mit Meinungsaustausch
Etwa 50 Chinesinnen und Chinesen leben in Bocholt, meint Stefan Schlier, mit einigen von ihnen haben der 57-Jährige und seine Familie Kontakt. In der gut 70 Mitglieder zählenden Deutsch-Chinesischen Gesellschaft sind sie in der Minderheit. Einer von ihnen ist Hui Jiang, der im neu gewählten, ehrenamtlich aktiven Vorstand Stellvertreter Stefan Schliers ist, welcher seinerseits Ulrich Paßlick ablöste. Nicht immer und nicht in allen Punkten teilen der Vorsitzende und sein Vize ihre Einschätzungen bezüglich China. „In unserem Verein gibt es verschiedenen Meinungen, keine Vereinsmeinung“, sagt Stefan Schlier. Aber man führe offene Gespräche miteinander, tausche sich unter anderem bei Diskussionsabenden aus, wenn etwa der deutsche Ex-Botschafter in China referiert habe. Und es gibt gemeinsame Unternehmungen wie Radtouren, Filmabend, Mondfest, Fahrten zu China-Festen in Köln oder Düsseldorf, musikalischen (Klavierkonzerte) oder kulinarischen Genuss bei Grillabenden und dem jährlichen deutsch-chinesischen Kochen bei der BEW. Natürlich wurde jetzt auch das 25-jährige Bestehen der Deutsch-Chinesischen Gesellschaft gefeiert.
Politisch ist von einer Zeitenwende die Rede, von neuer Blockbildung, davon, dass man auch China anders, distanzierter begegnen müsse. Leicht und schnell können da Klischees bedient werden, über „den Chinesen“, der Arges im Schilde führe. Die Politik und die Menschen, denen sie gilt, sind indessen nicht pauschal gleichzusetzen. Stefan Schlier hält daran fest, das Verbindende zu fördern, den Kontakt beizubehalten. Das sei, bei allen Gegensätzen, ohne eine Verständigung auch auf institutioneller Ebene nicht zu erreichen. „Die Kommunikation muss aufrechterhalten werden“, sagt er – sei es schriftlich und virtuell.
Gesten und Hoffnung auf neue Begegnung
Freundliche Gesten tragen dazu bei, und die gibt es weiterhin. Gerade, im November, hat die Tongji-Universität in Shanghai, eine der renommiertesten in China, den Autokorso von 2007 als „herausragendes Beispiel des deutsch-chinesischen gesellschaftlich-kulturellen Austauschs“ mit einer Urkunde ausgezeichnet und in das Buch „Begegnungen und Verständnis“ aufgenommen. Und wenn schon zurzeit keine persönlichen Kontakte möglich sind, hat die Stadt Wuxi, inzwischen auf mehr als sieben Millionen Einwohner angewachsen, Bocholt zum 800-jährigen Stadtjubiläum zwei spezielle Gesandte geschickt: Wu und Xi, wie anders könnten sie heißen, verkörpern als jeweils anderthalb Meter große Figuren ihre Heimatstadt. Nach ihrer langen Reise ruhen sie sich zunächst im Flur vor der Aula des St.-Georg-Gymnasiums aus, wo Bürgermeister Thomas Kerkhoff und die Vorsitzenden der Deutsch-Chinesischen Gesellschaft sie begrüßten. Wenn das Bocholter Rathaus wieder nutzbar ist, sollten sie dort sichtbar platziert werden, meint Stefan Schlier – so wie umgekehrt ein Kunstwerk mit einer Bocholter Buche im Rathaus in Wuxi steht. Vielleicht auch im Lernwerk nach dessen Fertigstellung, meint der Bürgermeister, jedenfalls an einem geeigneten Ort. Ein weiteres Geschenk aus Wuxi spricht Stefan Schlier an: die chinesische Pagode auf der kleinen Insel im Aasee (Foto oben / DCG), der aufgrund der dortigen maroden Brücke nicht erreichbar ist. Das sei „symbolisch eine Katastrophe“ und bedürfe einer Lösung. Die erhofft er sich im Rahmen des Aasee-Gesamtkonzeptes.
Thomas Kerkhoff will seinem Amtskollegen in Wuxi eine Einladung senden: Junge Chinesen sind beim europäischen Jugendcamp im Juli dieses Jahres in Bocholt willkommen. Die Chancen, dass dann wieder Gäste aus Wuxi hierher kommen, seien durchaus nicht schlecht, meint Stefan Schlier. – jf –