Der Sommer hat bereits seine Fühler ausgestreckt, und wir mussten zuhause bleiben. Wohl dem, der da ein zweites Zuhause hat, nämlich seinen Kleingarten. Der erlebt zurzeit eine besondere Blüte.
Immer mehr Bocholter drängt es in die Mitte der Stadt. Es wird gebaut und verdichtet. Wo bleibt da die Natur? Flugs wird wieder ein Trend daraus gemacht: Urban gardening ist in Mode, etwa das Bepflanzen, Beackern und Abernten von Hochbeeten auf Industriebrachen. Da erinnern wir uns an die Kleingärtner, die es schon viel länger gibt. Zum Beispiel die des Kleingärtnervereins An der alten Aa. Sie erleben ein Frühlingserwachen gleichsam auch bei den Mitgliedern: In den letzten Jahren hätten sich zunehmend junge Familien mit Kindern ihr kleines grünes Reich eingerichtet, sagt Vorsitzender Klemens Engenhorst. Und jetzt ist die Nachfrage größer denn je.
Ja, aber Kleingärtner sind doch eigentlich älter, meinen manche und verbinden damit die Nachkriegsgeneration, die in schlechten Zeiten mit dem Anbau von Gemüse und Obst für ihren Lebensunterhalt sorgte, was sich dann als Hobby fortsetzte. Auch im Verein An der alten Aa, der vor fast 90 Jahren entstand. Offenbar hat die Sache ihren Reiz weiterhin und eher verstärkt. Dafür gibt es gute Gründe.
Aktiv und passiv
„Freizeit“, antwortet Vorstandsmitglied Erwin Lage spontan auf die Frage, was die rund 200 Menschen suchen, die hier eine Parzelle gepachtet haben. Das klingt nach Erholung und Entspannung. Auch nach Relaxen oder Chillen, wie es heute teils heißt. Das ist es auch – unter anderem. Freizeit bedeutet zudem Aktivität. Gärtnern in diesem Fall. Das Gestalten der im Schnitt etwa 350 bis 400 Quadratmeter großen Parzellen, das Hegen und Pflegen verschiedener Pflanzen. Das ist kreativ und selbstbestimmt und oft ein Ausgleich zur beruflichen Tätigkeit. Der Lohn besteht im sinnlichen Genuss, wenn es Jahr für Jahr ringsum blüht. Und im leiblichen Wohl, wenn geerntet wird. Ein Drittel der jeweiligen Fläche, so sieht es das Kleingartengesetzbuch vor, soll Nutzfläche sein. Äpfel, Birnen und Pflaumen werden ebenso angebaut wie Gemüse, wie Salat, Tomaten, Paprika und sogar Auberginen. Nicht vorwiegend aus Kostengründen: Man weiß, wo es herkommt und wie es behandelt wurde. Und dass die selbst gezogene Gurke nicht eine halbe Weltreise hinter sich hat, wie Klemens Engenhorst sagt.
Und man kann hier erleben, wie es kreucht und fleucht. Hühner werden in der seit 1932 bestehenden Anlage seit der Vogelgrippe nicht mehr gehalten, wohl aber Bienen. Für Insekten ist dies ein idealer Ort. Gleiches gilt für die Vögel, die man hier singen hört.
Gemeinschaft mit Regeln
Die Kleingärtner können sich individuell entfalten. Das sieht man schon von Weitem an den unterschiedlichen Fahnen von Fußballvereinen und Nationalitäten. „Alle Nationen, die in Bocholt leben“ seien hier vertreten, sagt Erwin Lage. „Ihre Integration ist uns wichtig“, ergänzt der Vorsitzende. Generell ist das Miteinander vielen Nutzern wie auch dem Vorstand ein Anliegen. Normalerweise kommen jeden Samstag wechselweise etwa zehn Pächter zusammen, um in der Anlage Gemeinschaftsarbeiten durchzuführen. Sommerfest, Pflanzenbörse, Müllsammelaktion und Neujahrsempfang sind Treffpunkte für alle Vereinsmitglieder, zu denen auch rund 100 ohne Pachtflächen zählen. Angesichts der aktuellen Kontakt-Beschränkungen können solche Treffen allerdings derzeit nicht stattfinden. Und auch das beliebte Grillen in größerer Runde ist zunächst einmal aufgeschoben.
Aber generell gehören auch das Klönen, das Doppelkopf spielen, das Planschen der Kinder im Pool oder das Zelten im Sommer zum Kleingärtner-Leben. Das bedeutet auch gegenseitige Rücksichtnahme. Wie es Regeln für die Höhe der Bäume gibt, so gilt für die Gemeinschaft generell und auch in Nicht-Corona-Zeiten als Leitfaden „erlaubt ist, was die Nachbarn nicht stört“. Akustisch wie optisch. Der Begriff Ordnung spiele zwar „eine untergeordnete Rolle“, so der Vorsitzende, aber nach Rödel und Trödel soll es nicht unbedingt aussehen. Erwartet wird, dass eine Mittagsruhe eingehalten wird und dass auch nach 22 Uhr Ruhe herrscht. Lärmende Motorfahrzeuge sind verboten, elektrogetriebene Fahrräder und Rollstühle natürlich nicht. Funktioniert das Miteinander? Es klappt gut, sagt Klemens Engenhorst, allenfalls sei ab und an mal ein vernünftiges klärendes Gespräch zu führen.
Vorstandsmitglieder als Berater
Außer ihm gehören dem Vorstand 13 weitere Mitglieder an. Somit stehen den Vereinsmitgliedern mehrere Fachberater für kleingärtnerische Aktivitäten zur Seite, zu denen der Landesverband die Vorstandsmitglieder ausbildet. Mitgliederverwaltung und -betreuung, Pächterwechsel, Neuaufteilungen von Parzellen, Kauf und Verkauf darauf befindlicher Gebäude, Versicherungen, Steuererklärung und nicht zuletzt die in Eigenregie betriebene, derzeit virusbedingt geschlossene Vereinsgaststätte gehören zum umfangreichen Aufgabengebiet des Vorstandes, der mittwochs von 18 bis 20 Uhr seine Sprechstunde abhält.
„Der Austausch mit anderen“ ist für Klemens Engenhorst Motivation. Seit 2004 ist er Vorsitzender und mittlerweile Vorruheständler. „Man trifft hier immer Leute“, sagt sein Vorstandskollege Bernhard Niessing, der schon als Kind seinen Vater in den Kleingarten begleitet hat. Er wohnt ganz in der Nähe und ist „fast jeden Tag im Garten“. Erwin Lage wiederum ist auf einem Kotten bei Osnabrück aufgewachsen und hat, als er später nach Bocholt kam, ein Stück Natur gesucht und gefunden.
Im Hintergrund der Kleingarten-Anlage wird gebaut. Da entsteht mit dem Weber-Quartier ein neues Stück Stadt. In dem Zusammenhang wurde die Gesamtfläche des Vereins An der alten Aa ein Stück verkleinert. Aber sie bleibt erhalten, diese grüne Oase. – jf –