Trotz allem: Bocholter finden Mittel und Wege, um in Belarus Hilfe zu leisten.
Auf einmal, im Krieg, taucht Tschernobyl wieder auf. Die atomare Katastrophe von damals haben viele fast vergessen – und nun plötzlich neue Angst, neue Diskussionen, neue Bewertungen, komplette Kurswechsel. Der Supergau vom 26. April 1986 zeigt bis heute, 36 Jahre danach, seine schlimmen Folgen. Auch unter den Kindern der Nachfolgegeneration. Seit 20 Jahren helfen die Mitglieder des Vereins „Hilfe für tschernobylgeschädigte Kinder“ Betroffenen in der Region Mogilev (Mahiljou). Jetzt im April schicken sie wieder einen Hilfstransport von Bocholt in den östlichen Teil von Belarus.
Anfangs kamen Kinder hierher, aber jetzt macht es mehr Sinn, vor Ort zu helfen. „Ich weiß noch“, sagt Werner Linde, „wie mich Theo Heming beim Glas Bier dazu brachte, mal mitzufahren, nach Mogilev.“ Genetisch, sowohl körperlich als auch geistig schwer geschädigte Kinder erlebte er dort. Danach musste er unbedingt etwas tun, musste unbedingt mithelfen, und so war er ebenso wie seine Frau Agnes mit von der Partie, als der Verein 2002 unter Theo Hemings Vorsitz gegründet wurde. Heute ist er Nachfolger des vor elf Jahren verstorbenen ersten Vorsitzenden, dessen Ehefrau Hannelore immer noch unter den 24 Vereinsmitgliedern aktiv ist.
Sammeln, packen, fahren
Sie sind überwiegend älter, Werner Lindes Sohn Thomas ist mit 42 der Jüngste. Das schließt nicht aus, dass sie ungemein rege und aktiv sind. Sie suchen Geld- und Sachspender, sammeln Spenden ein, fahren dafür teils etliche Kilometer, sichten alles, lagern es in einer von einem Unternehmen kostenlos zur Verfügung gestellten Halle in Rhede und verkaufen einen Teil, um dadurch die Transportfahrten zu finanzieren. Neben vielen anderen hat Werner Lindes Chef den Verein großzügig unterstützt, indem er Fahrzeuge zur Verfügung gestellt hat. Das Verpacken gespendeter Gegenstände, Kleidung und Lebensmittel, großenteils in Plastiksäcken und Bananenkartons, das Be- und Entladen der Fahrzeuge, das Ausfüllen der Zollformulare und natürlich die Fahrten über die rund 1800 Kilometer nach Mogilev – auch all das zählt zum ehrenamtlichen Einsatz der Vereinsmitglieder.
Etwa 400 Tonnen an Hilfsgütern haben sie in den vergangenen Jahren nach Belarus gebracht, die vor allem in Kinderheimen gebraucht werden. Auch in einem Ferienlager freuen sich Kinder, wenn die verschiedensten Dinge aus Bocholt kommen. Unter anderem behindertengerechte Stühle und Hilfsmittel zählen dazu, für die ein Vereinsmitglied über seinen Sohn eine Quelle aufgetan hat. Der Lions Club hilft beim Beschaffen medizinischer Artikel und besonders kostenintensiver Dinge. Lösungen zu suchen und zu finden, um Bedarfe zu decken, ist eine Herausforderung. Für den anstehenden Transport hat das St. Agnes-Hospital zwei Inkubatoren gespendet. Das dortige Krankenhaus war selbst für Papier dankbar.
Die Hilfe zieht auch darüber hinaus segensreiche Kreise. Seit 2005 gibt es den Kontakt zu Pastor Pavel Brodov und seiner christlichen wohltätigen Organisation Tabea. Für ihn haben die Bocholter auch schon mal eine kleine Orgel organisiert. Und jetzt hat Werner Linde, mit 67 in Rente, als gelernter Schreiner aber natürlich weiterhin fachkundig, Bänke des abgerissenen Kirchengebäudes von Herz-Jesu so vorbereitet, dass sie in Mogilev für einen neuen Kirchenraum verwendet werden können.
Schwierige Bedingungen
Die Herausforderungen dort sind nach all den Jahren nicht weniger geworden, wie aus den Briefen des 73-jährigen Pastors hervorgeht, die er an den Verein schreibt. Auch in Mogilev hat die Corona-Pandemie den Zugang zu verschiedenen Einrichtungen verwehrt. Die Armenküche werde weiterhin genutzt, schreibt er, und nun darf auch das Ferienlager wieder bezogen werden. Zwischenzeitlich haben er und seine Organisation sich um Asylsuchende aus dem Irak gekümmert, die nach Belarus kamen und von dort nicht nach Polen einreisen durften. Auch dafür waren Güter aus Bocholt hilfreich.
Zwei Jahre lang hat das Virus Transporte von hier nach dort verhindert. Die persönlichen Kontakte fehlen, die Besuche der Bocholterinnen und Bocholter in Kinderheimen und in Schulen, in denen es eigens für sie Aufführungen und selbstgebastelte Geschenke gab, und auch das gemeinsame Grillen. „Wir haben da Freunde und Bekannte, wir wären so gerne wieder vor Ort“, sagt Werner Linde. Aber auch die politischen Verhältnisse haben sich zugespitzt. „Es gibt immer neue Auflagen und Beschränkungen“, so der Vereinsvorsitzende. „Für uns ist die Grenze dicht.“ Er und sein Team geben indes nicht auf. Ein Spediteur aus Belarus kommt in wenigen Tagen, wenn er seine Ware in Deutschland abgeladen hat, hierher und nimmt die Hilfsgüter mit, die die Vereinsmitglieder gesammelt und verpackt haben. 18 Tonnen Ladung, schätzt Werner Linde. „Solange wir können, werden wir das machen“, sagt er.
In Mogilev wartet man sehnsüchtig auf die Ankunft. Auch weil das wieder etwas greifbar Persönliches hat. Fast etwas Familiäres, wie unter den Bocholtern ohnehin, bei denen Werner Linde von seiner Frau im Vorstand und vielleicht bald auch von den Kindern seiner Schwester unterstützt wird. „Vertrauen – Freundschaft – Frieden“ steht unter dem Vereinslogo. „Ich hoffe“, hat Pavel Brodov unlängst nach Bocholt geschrieben, „dass keine Politik unsere Freundschaft zerstören kann.“ – jf –