Ein Sozialführerschein ist nicht etwa eine Fahrerlaubnis für Sozialhilfeempfänger. Dahinter verbirgt sich Wertvolles für Schülerinnen und Schüler, wie Miriam Pietzka und Maik Stevens erläutern.
Die Welt ist voll von Klischees, und eines davon lautet, dass ein Ehrenamt eine Sache für Rentner sei, die sich nach ihrem Berufsleben noch irgendwie beweisen müssten. Dann lass sie sich mal verwirklichen, meinen manche ganz bequem. Lass die mal die Vereinsarbeit machen – ich für meinen Teil will nur spielen, Fußball oder Handball, oder einen anderen Nutzen haben.
Klar, unsere Dienstleistungsgesellschaft funktioniert nach dem Prinzip ordern (gerne per Klick) und liefern (gerne gegen Geld). Wäre das alles, gäbe es kein Kümmern, kein Quatschen, kein Zuhören, keine Anteilnahme, kein Einfach-für-andere-da-sein schlicht aus Verständnis und Menschlichkeit, ohne dafür zu kassieren. Welch kalte Welt wäre das, welch eine Welt vieler Alleingelassener. Zum Glück gibt es engagierte Menschen, die sich kümmern, und keineswegs nur Rentner. Ehrenamt ist dafür vielleicht ein veraltetes Wort, aber der Inhalt ist für das Zusammenleben in der Gesellschaft äußerst wertvoll.
Berufskolleg bietet spezielle Chance
Am besten ist praktische Erfahrung. Und dafür bietet der Sozialführerschein Schülerinnen und Schülern am Berufskolleg am Wasserturm eine richtig gute Chance. Um ihn zu erwerben, engagieren sie sich an einem Nachmittag in der Woche für durchschnittlich etwa anderthalb Stunden bei Vereinen und Einrichtungen für andere Menschen. Sie erhalten dafür nicht nur eine in der Regel gute oder sehr gute Note, sondern machen auch jede Menge Erfahrungen, lernen neue, ganz praktische Inhalte kennen und finden heraus, was ihre Stärken und Schwächen sind, wohin sie sich orientieren und woran sie arbeiten sollten. Die Bescheinigung erfolgreichen Einsatzes am Ende ist zudem ein geschätzter Faktor bei Bewerbungen. Mindestens 50 Zeitstunden müssen die durchschnittlich 16- bis 17-Jährigen dafür im Schuljahr aufbringen.
Das Berufskolleg am Wasserturm bietet diese Chance in Verbindung mit einem unter den Wahlpflichtfächern auszuwählenden Kurs. Der nennt sich MAD-Kurs, was wie verrückt klingt, aber für „making a difference“ steht, weil er anders ist als andere Differenzierungskurse. Unter den Schülerinnen und Schülern der Höheren Handelsschule und neuerdings auch denen der gymnasialen Oberstufe ist er eine beliebte Wahl. Gab es anfangs, als das Angebot aus einem Europa-Projekt entstand und 2014 erstmals unterbreitet wurde, zehn Teilnehmer, so sind es beim gerade gestarteten Durchgang 26 – „so viele wie noch nie“, wie Lehrer Maik Stevens sagt, der gemeinsam mit seiner Kollegin Miriam Pietzka den Kurs organisiert und betreut. Auch aus anderen Bocholter Schulen haben sich schon Schüler und Schülerinnen beteiligt.
Vielfältige Möglichkeiten
Die beiden (Foto oben) müssen jedes Mal zunächst Anbieter finden, was nicht leicht sei, wie Miriam Pietzka sagt. Den vielen Einrichtungen, bei denen sie anklopfen, machen sie deutlich, dass die Schülerinnen und Schüler während ihrer Einsatzstunden „nicht daneben stehen“, sondern „Arbeitskraft bieten“. 30 Stellen haben sie diesmal rekrutiert. Sie reichen von Mitwirken im offenen Ganztagsangebot von Grundschulen sowie Schul-AGs in der Gesamtschule über Unterstützung in verschiedenen Einrichtungen für Jugendliche und Nachhilfe für Kinder mit Migrationshintergrund bis hin zu Angeboten für Senioren (Spazierengehen, Radfahren, Klön- und Spielenachmittag, singen, musizieren, inklusive eigener Ideen und Auftritte, Mithilfe in einer Demenz-AG). Weitere Einsatzmöglichkeiten betreffen eine Wohngruppe behinderter Menschen, den Tafelladen, Projekte für Naturschutz mit aktivem Spaten-Einsatz oder die Vorbereitung und Durchführung von Projekten zu Nachhaltigkeit und globaler Gerechtigkeit. Zudem gibt es ergänzende Angebote der Schule wie eine Sammelaktion für die Bocholter Tafel und und das Basteln von Weihnachts-, Geburtstags- und Osterkarten für das Jeannette-Wolff-Seniorenheim.
Zu den Aufgaben von Miriam Pietzka und Maik Stevens zählen auch die Betreuung und Nachbereitung. Beiden, selbst mit Erfahrungen aus ehrenamtlichem Engagement, macht der Kurs Sozialführerschein viel Freude. Sie erleben ein Stück Persönlichkeitsentwicklung ihrer Schülerinnen und Schüler in bis dahin nicht erfahrenen Situationen, in unbekanntem gesellschaftlichem Umfeld und angesichts neuer sozialer Anforderungen – keine Lehrstoff-Vermittlung im gesonderten schulischen Lernraum, sondern reale Wirklichkeit und Lebenspraxis. Das sei etwas Anderes als Schule sonst leistet, sagt Miriam Pietzka. Etwas Zusätzliches, Ergänzendes, darüber Hinausgehendes.
Spaß haben inklusive
Bei der war den Schülerinnen und Schülern schon recht klar, was sie zur Erlangung des Sozialführerscheins mitbringen müssen: Neben Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit auch Flexibilität, Motivation, Verantwortungsbewusstsein, Vertrauen. Zu ergänzen wäre sicherlich Zuhören können, Verständnis, Einfühlungsvermögen und, wie Maik Stevens einfordert: Vertrauenswürdigkeit, sprich Diskretion.
Mit welchen Absichten gehen sie an den Start? Sie wollten „anderen helfen“, sagen sie fast durchgängig. Auch Anhaltspunkte für eine eigene berufliche Orientierung gewinnen möchten sie. Und vielfach: „Spaß haben.“ Klar wollen junge Leute auch das, könnte man dazu meinen, aber bei einem solchen Engagement? Doch, tatsächlich, sagt Miriam Pietzka: Begegnungen, etwa bei Hausaufgaben helfen zu können oder beim Spazierengehen mit Senioren freudig begrüßt zu werden – das tue gut, und das mache wirklich Spaß, sogar gegenseitig. – jf –