Der Deutsch-Syrische Verein hat in und um Bocholt Brücken gebaut. Plötzlich tut sich eine neue auf – die Brücke in die Heimat. Und die Frage: Was wird?
Muaiad Abd Alrahman lebt in Bocholt, so wie rund 2000 andere auch aus Syrien stammende Menschen. Er arbeitet bei der Stadtverwaltung und ist Vorsitzender des Deutsch-Syrischen Vereins – ehrenamtlich, wie auch sein Geschäftsführer Khaled Aidy und die weiteren Mitglieder des engen und des erweiterten Vereinsvorstandes. Sie alle begreifen sich als Brückenbauer zwischen unterschiedlichen Kulturen, wobei die Angehörigen der einen Kultur nicht aus bewusster, freier persönlicher Entscheidung, sondern aus Not und Verfolgung getrieben auf die Mitglieder der anderen treffen, fern ihrer Heimat. Jetzt gibt es plötzlich eine neue Situation: Assads brutales Regime, das die Menschen aus Syrien hat fliehen lassen, wurde gestürzt, und man könnte meinen, die Vereinsarbeit habe sich erledigt. Doch das Engagement von Muaiad, Khaled und Co. ist neu gefordert.
Zehn Jahre getrennt, zehn Jahre ohne sein Zuhause: So schnell wie möglich musste Muaiad jetzt unbedingt endlich wieder nach Damaskus, wo er aufgewachsen ist, in die Stadt, die er immer „in meinem Kopf“ hatte und hat. „Ich wohne in Damaskus, egal wo ich bin“ sagt der 37-Jährige. Die Straßen von einst, die Altstadt, die Umayyaden-Moschee – „das ist mehr als Heimat, da rieche ich meine Geschichte.“ Khaled geht es ähnlich. Er hat keine Angehörigen in Syrien, aber seit seiner Flucht, die ihn 2015 schließlich nach Bocholt führte, hat er den Kontakt zu seinen dortigen Lehrern und Professoren von einst gewahrt.
“Die Hoffnung ist groß”
Der Unterschied zwischen Bocholt und der syrischen Hauptstadt war groß bei Muaiads Rückkehr. Nicht nur wegen des Wetters, nicht nur, weil die beiden Städte unvergleichbar sind. Vieles in und um Damaskus ist zerstört. Gerade mal zwei Stunden am Tag gab es Strom und kaum eine Gelegenheit, sein Handy aufzuladen. Unklar ist, was wird. „Die Hoffnung ist groß“, hat Muaiad in Damaskus erfahren. Ein für die Zukunft wichtiger emotionaler Umschwung, aber noch nichts Konkretes, das daraus folgt, nichts, das ein Leben in Sicherheit und Frieden schafft. Dem gegenüber steht, was Muaiad sich in Bocholt aufgebaut hat, ebenso wie der ein Jahr ältere Khaled, der in einer Anwaltskanzlei arbeitet. Und auch, dass andere unter ihren Landsleuten Wohneigentum erworben haben, dass ihre Kinder hier geboren wurden, hier zur Schule gehen. Nach drei Wochen Damaskus ist Muaiad wieder in Bocholt.
Nach dem Jubel im Dezember müssten nun alle in Ruhe nachdenken, sagt der Vereinsvorsitzende über die syrische Community in Bocholt, wie er sie nennt. Sie alle müssten unverhofft über ihr zukünftiges Leben entscheiden, und das angesichts einer höchst ungewissen Konstellation. Was passiert in Syrien und dessen Nachbarländern? Was geschieht nach den anstehenden Wahlen in Deutschland? Was bedeutet das für den Aufenthalt hier? Und darüber hinaus: Wie verhält man sich angesichts einer höchst fragilen Weltlage?
Ohne große Bedenken nach Syrien zurück wollten diejenigen, die nicht gut integriert seien, sagt Muaiad, die über 40-Jährigen, die im Arbeits- und Familienalltag versäumt hätten, richtig Deutsch zu lernen. Manche warteten ab, ob die Bundesregierung Rückkehrern ein gewisses Startkapital für einen Neuanfang in Syrien gebe. Aber diejenigen, deren Kinder in Bocholt aufwachsen, in Ausbildung und Beruf reinwachsen, die besser Deutsch als Arabisch sprechen? Was machen sie? Die Zahl der hiesigen jungen syrisch-stämmigen Familien habe zugenommen, sagt Khaled.
Einiges bewegt
Der vor drei Jahren offiziell gegründet Deutsch-Syrische Verein hat in Bocholt und Umgebung einiges bewegt. Er dient als wichtige Anlaufstelle, bietet gegenseitige Hilfe und Unterstützung bei Übersetzungen, Arztbesuchen und vielen weiteren Anliegen, insbesondere im kulturellen Bereich. Er hat zahlreiche Aktionen gemeinsam mit anderen Vereinen und vor allem mit der Stadt durchgeführt, „um ein klares Bild der syrischen Community für alle Bocholterinnen und Bocholter zu vermitteln“, wie Muaiad formuliert.
Im Rahmen der Interkulturellen Woche der Stadt Bocholt „präsentieren wir unsere Kultur“, sagt er. Seit 2021 ist der Deutsch-Syrische Verein nicht nur als Gast bei deren Aktionen vertreten, sondern Muaiad ist zudem Mitglied des Vorbereitungsteams. Dadurch konnte der Verein mehr als fünf große Veranstaltungen eigenständig oder in Kooperation mit anderen durchführen.
Bei einem Basar und einem Fest haben Vereinsmitglieder die Bedeutung des Ramadan vermittelt und dabei die Allgemeinheit umfassend eingeschlossen: alle Deutschen und alle Menschen mit internationaler Familiengeschichte, die in Bocholt und Umgebung leben, so Muaiad.
Orientierung im Schwebezustand
Seit zwei Jahren lade die Stadt Bocholt zum Fastenbrechen ein – mit Beteiligung des Bürgermeisters. Angeregt durch derlei Aktivitäten hätten Bocholter Grundschulen das Thema im Unterricht behandelt. Das Aufwachsen der Kinder mit verschiedenen Sprachen und in unterschiedlichen Kulturen gilt dem Verein als ein Schwerpunkt seiner Arbeit. Mit der Volkshochschule arbeitet der Vorstand zusammen, unter anderem im Zusammenhang mit Sprachkursen, mit Sportvereinen und mit Vereinen, denen zugezogene Menschen aus anderen Ländern angehören.
Jetzt endet dies alles nicht abrupt. Aber es kommt eine neue Aufgabe hinzu, nämlich sich angesichts des aktuellen Schwebezustands gemeinsam mit den 15 Vereinsmitgliedern und der gesamten Community zu orientieren, zu informieren, zu überlegen, zu planen. Demnächst soll es dazu ein Treffen geben. Entscheiden muss am Ende jeder für sich.
Ein Aspekt wird dabei sein, wie wohl man sich als Syrer oder Syrerin in Bocholt fühlt. Und wiederum ob und wie die Bocholterinnen und Bocholter sich interessieren, Anteil nehmen. Sie haben den Medien in den vergangenen Jahren ein Bild von Rivalitäten, Krieg und Chaos in Syrien entnommen, das zu Sympathie für Betroffene führen kann, aber auch zu Distanz, Ablehnung, Verallgemeinerung, Vorurteil, Angst. Khaled erfährt das eine wie das andere. „Natürlich gibt es auch bei Geflüchteten gute und schlechte Menschen“, sagt er. Es sei wichtig und geplant, auch die einheimischen Bocholter über die aktuelle Situation zu informieren.
Im Juni möchte der Deutsch-Syrische Verein im Rahmen einer Veranstaltung aufzeigen, was in den vergangenen zehn Jahren für das gegenseitige kulturelle Verständnis und Miteinander geleistet wurde. „Ich denke, wir haben doch so einige Brücken gebaut“, sagt Muaiad. Im Sommer will er einem siebenjährigen Bocholter Jungen Damaskus zeigen – seinem Sohn. – jo –