„Unfälle passieren nicht einfach, sie werden verursacht!“ Mit diesen eindringlichen Worten bereitet Julia Overkamp, Teil des Teams der Präventionskampagne Crashkurs NRW, Schülerinnen und Schüler auf eine Veranstaltung vor.
Mit Gabi Lucka, Franz-Josef Tenbensel und Jenny Scheer fahre ich von Bocholt nach Maria Veen, wo an diesem Donnerstagmorgen das Team des Crashkurs NRW Kreis Borken eine Veranstaltung abhalten wird. Alle Drei gehören zu der Gruppe der Ehrenamtlichen des Teams. Während der Autofahrt wird gescherzt und gelacht, auch wenn Gabi zugibt, nervös zu sein. Sie hat längere Zeit nicht mehr auf der Bühne gestanden, um als Betroffene von dem Verkehrstod ihrer damals 14-jährigen Tochter zu berichten. Franz-Josef hat als Notfallseelsorger viele schlimme Unfälle erlebt und wird seine Aufgabe und Gefühle schildern. Jenny, Ersthelferin bei einem Unfall, bei dem sie zufällig Zeugin war, wird dieses Mal als psychologische Betreuung für die Akteure wie für die teilnehmenden Schülerinnen und Schüler dabei sein. Vor der Präsentation frühstücken alle Gruppenmitglieder gemeinsam, die Atmosphäre ist gelöst. „Das hilft uns sehr, bevor wir auf die Bühne gehen“, erklärt Gabi Lucka. Durch eine kurze Vorbesprechung des konkreten Ablaufs bereiten sich die Akteure auf ihren Einsatz vor.
In der Aula des Marian Hiller Gymnasiums hat sich die Oberstufe versammelt. Noch ist leises Gemurmel zu hören, eine leichte Anspannung ist zu spüren. Die Schülerinnen und Schüler sind im Unterricht auf die Präsentation vorbereitet worden. Julia Overkamp betritt als Moderatorin die Bühne und spricht die jungen Leute direkt an: „Das, was ihr gleich hören und sehen werdet, kann sehr hart sein. Wenn jemand von euch einen Unfall erlebt, gesehen oder im persönlichen Umfeld erfahren hat, dann sollte er besser jetzt den Raum verlassen; er kann auch jederzeit rausgehen.“ Niemand steht auf.
Präventionsprogramm Crashkurs NRW
Die Idee stammt aus Großbritannien. In Staffordshire wurde das Programm „Crash Course“ entwickelt und man hat dort im Laufe der Jahre gute Erfahrungen im Bereich der Prävention gemacht. An diesem Vorbild hat sich der „Crashkurs NRW“ orientiert. Statistiken zeigen, dass viele schwere Unfälle überproportional durch 18- bis 24-Jährige verursacht werden. Den jungen Leuten soll deutlich werden, dass diese Verkehrsunfälle nicht irgendwo stattfinden, sondern in ihrer Region, auf Straßen, die sie kennen. Im Crashkurs werden sie mit Tatsachen konfrontiert. „Hinter jedem Unfall steckt ein Regelverstoß. Die „Killer“ werden beim Namen genannt: Geschwindigkeit, Alkohol, Drogen und Nicht-Anschnallen.“ (Faltblatt Crashkurs NRW) In diesem Zusammenhang darf der Gebrauch des Handys nicht vergessen werden.
Als das Präventionsprojekt vor gut 12 Jahren am Remigianum Gymnasium in Borken startete, wurden Freiwillige aus dem Bereich der Polizei, des Rettungsdienstes, der Feuerwehr, der Notfallseelsorge, aber auch Betroffene gesucht, die auf diesem Wege an das Verantwortungsbewusstsein Jugendlicher appellieren. Die Gruppe umfasst 23 Aktive.
Authentische Berichte
Zunächst läuft ein Film ab, der die Situation nach einem Unfall zwischen einem 21-jährigen Motorradfahrer und einer 19-jährigen Radfahrerin zeigt. Es wird kein Horrorszenario dargestellt, vielmehr das Bild der Kreuzung?
Die nachfolgenden persönlichen Berichte von Beteiligten werden mit Fotos unterstützt. Es werden keinerlei Schockvideos vorgeführt. Doch alle Unfälle passierten in den Schülerinnen und Schülern möglicherweise bekannten Bereichen. „Mit den Unfällen müssen sich Menschen auseinandersetzen, eine Rettungskette wird in Gang gesetzt.“ Mit diesen Worten bittet Julia Overkamp die Polizistin Röckinghaus auf die Bühne. Sie berichtet von einem Unfall, der ihr sehr an die Nieren ging und der immer wieder präsent ist. Der Unfall passierte an einem schönen Sommertag an einer Kreuzung mit Ampelanlage auf der B 8. Beteiligt waren ein junger Autofahrer, bei dem sich herausstellte, dass er Rauschgift zu sich genommen hatte, und eine junge Motorradfahrerin. Beide waren mit 60 km/h unterwegs Der Autofahrer erfasste das Motorrad, dieses schleuderte auf den Fahrradweg. Die Fahrerin starb noch an der Unfallstelle.
„Es gibt Tage, die man nie vergisst, Szenen, die bis heute im Gedächtnis sind.“ Damit blickt der Notfallseelsorger Tenbensel auf einen Unfall auf der B 67 in Höhe der Fachhochschule am Ostersonntag 2016, bei dem zwei Autos frontal ineinander fuhren. In dem einen saß eine junge Frau auf dem Weg zu ihrem Verlobten in Bocholt, in dem anderen eine Familie. Die junge Frau hatte wohl kurz auf ihr Handy geschaut, musste diesen Blick mit ihrem Leben bezahlen. Tenbensel betreute nicht nur die Angehörigen der jungen Frau, sondern auch die anderen am Unfall Beteiligten. „An diesem Tag habe ich mehreren Menschen eine Todesnachricht überbringen müssen.“
Zuletzt betritt Gabi Lucka das Podium. Zunächst erzählt sie von der Zeit in den 90iger Jahren, als sie mit ihrer Familie noch in Altenberge bei Münster lebte. Zusammen mit ihrer Tochter Noémi betreute sie ein Pferd, da beide große Pferdenarren waren. Im Hintergrund erscheinen Fotos, die diese glückliche Phase verdeutlichen. Ihre Stimme wird leiser und ihre Unsicherheit deutlich spürbar, als sie auf den Tag im Oktober 1996 zu sprechen kommt, an dem ihre Tochter ihr Leben lassen musste. Zusammen mit einer Freundin war sie auf dem Rückweg vom Reiterhof. Sie wollten die Straße überqueren und hatten nicht damit gerechnet, dass ein Autofahrer viel zu schnell über die Kuppe auf sie zukam. Das Auto erfasste Noémi. Sie wurde durch die Luft geschleudert und starb an der Unfallstelle.
Reaktionen
Mit Bildern, auf denen Schulkameraden mit Transparenten ein Tempolimit auf dieser Straße fordern, endet ihr Vortrag. Zusammen mit dem Team verlässt sie die Aula. Minutenlang ist es absolut still im Raum, auch als die ersten Schülerinnen und Schüler sich erheben und sich auf den Weg in ihre Klassenräume begeben, sind kaum Äußerungen zu hören. Den Gesichtern ist abzulesen, dass das Gehörte und Gesehene sie getroffen hat. Im nachfolgenden Unterricht wird mit der jeweiligen Lehrperson auf die Präsentation eingegangen.
Laut Aussagen von Lehrkräften gab es viele „positive Rückmeldungen zum ehrlichen/authentischen Zulassen von Sprachlosigkeit, Tränen, Wut, Trauer der Betroffenen vor den Schülerinnen und Schülern“. Kritisch gesehen wurden dagegen von einer Reihe der Teilnehmenden die zum Teil als dramatisch empfundenen Schilderungen der Vorkommnisse, die den Unfalltod herbeigeführt haben.
Nachbereitung
Das Team des Crash-Kurses setzt sich noch einmal zusammen, um den Beteiligten die Möglichkeit zu geben, ihre aufgebauten Emotionen im gemeinsamen Gespräch zu verarbeiten. „Auch wenn seit dem Unfall 27 Jahre vergangen sind, ist es für mich, als wäre es erst gestern geschehen. Und jedes Mal fällt meine Erzählung etwas anders aus.“ Auf meine Frage, warum sie sich immer wieder dieser Situation stelle, antwortet Lucka kurz, dass sie hoffe, wenigstens ein paar junge Menschen zum Nachdenken und verantwortungsvollen Handeln im Straßenverkehr angeregt zu haben. „Das ist unser gemeinsames Anliegen. Wir glauben an unser Konzept.“
Das Team sucht dringend Verstärkung! Von daher ergeht an dieser Stelle eine Bitte an Polizisten, Rettungssanitäter, Notärzte, Notfallseelsorger und Angehörige von Unfallopfern, die sich vorstellen könnten ehrenamtlich mitzuarbeiten. Wenden Sie sich an die folgende Mail-Adresse: Julia.Overkamp@polizei.nrw.de
Jeder, der mithelfen möchte, wird sorgfältig auf seine Aufgabe vorbereitet und intensiv vom gesamten Team begleitet. – ah –