Die Männer sind zurück. Zurück aus dem Hochwasserkatastrophengebiet. Wieder auf ihren Höfen, in ihren Häusern in Bocholt und Umgebung. Wieder im gewohnten Leben, im alltäglichen Zuhause, das für sie vorher so selbstverständlich war.
Stefan Spicker hat „sowas noch nie gemacht“. Aber es klappt. Es finden sich fast zwei Dutzend Männer, die mitmachen wollen, deren Part für Haus und Hof, Kind und Kegel während ihrer Abwesenheit von Angehörigen übernommen wird. Elf Mann machen sich in der Nacht vom 27. auf den 28. Juli mit Schleppern, Muldenkipper, Radlader, Tieflader mit Bagger und anderen Fahrzeugen auf den Weg von Bocholt nach Mayschoß. Sie haben keine Ahnung, was sie erwartet. Nach rund 200 Kilometern und gut sechs Stunden Fahrt erreichen sie ihr Ziel.
Improvisation
„Die Wirklichkeit ist stärker als die Bilder“, stellt Stefan Spicker fest. Nichts ist so wie zuhause – kein Strom, kein Wasser, kaum Handy-Verbindungen, teils keine Straßen mehr. Improvisation ist das Leitwort, einfach mal irgendwo irgendwie anfangen, Trümmer beiseite räumen, in den Häusern, die noch stehen, tun was zu tun ist. Einzelne von ihnen wechseln dazu spontan ins benachbarte Schuld oder nach Fuchshofen zum gemeinsamen Einsatz mit der Bundeswehr.
Die Männer haben verabredet, auch über psychisch Belastendes untereinander zu reden und wenn nötig professionelle Hilfe zu holen. Ganz unkompliziert gehören sie hier dazu, werden mit Dankbarkeit und Vertrauen aufgenommen und versorgt. Nachts schlafen die meisten von ihnen im höher gelegenen Gimmigen im Gemeindehaus – insgesamt 50 Männer auf Feldbetten, ihre Schuhe nach schweißtreibender Arbeit draußen vor der Tür aufgereiht. Es gibt Duschcontainer und Strom. Das ist mehr als bei Vielen unten in den Ortschaften.
“Uns geht’s gut, und die haben nichts”
Als auch das letzte der vier Teams, in die sie sich eingeteilt und die vor Ort einander abgelöst hatten, heil und gesund nach Bocholt zurückgekehrt sei, sei das ein besonderes, kaum zu beschreibendes Gefühl gewesen, sagt Stefan Spicker. Eigentlich ganz froh und vielleicht ein kleines bisschen stolz auf das Geleistete waren sie und immer noch berührt in Erinnerung an die Willkommens- und Dankbarkeitsschilder der Menschen in der Ahr-Region, die zugleich deren Not ausdrückten. Trotzdem blieb bei ihnen auch ein anderes Empfinden, ein ungutes, drängendes angesichts der von Mitfahrer Andreas Bollwerk formulierten Erkenntnis: „Uns geht’s saugut, und die haben nichts.“ Wie er waren auch seine Team-Kollegen Hans-Josef Hüls und Matthias Niemann entschlossen: „Wir müssen nochmal dahin.“
Ihr Engagement ist ansteckend: Beim zweiten Mal sind unter den 15 Helfern acht neue. Es ist anders als bei der ersten Tour. Nicht so ungewiss. Und mit mehr Erfahrung, hinsichtlich der Team-Bildung, der Örtlichkeiten, und damit, was wo und wie nötig ist. Jetzt, Anfang September, sind Bundeswehr, THW, Feuerwehr nicht mehr vor Ort, in Schuld, wo die Bocholter diesmal ausschließlich im Einsatz sind. Das Hotel muss wieder gebucht werden, es ist nicht mehr so wie zu Beginn der Katastrophe, als man dort nach grober Absprache mit dem Hotelier in unverschlossene Zimmer ging, sich ein freies Plätzchen suchte und hoffte, dass Dusche und Toilette funktionierten. Die Müllberge sind verschwunden, an den Straßen wird gebaut. Holz verarbeiten ist jetzt eine Aufgabe für die Helfer und vor allem Schotter fahren – an die 2500 Tonnen täglich, um eine provisorische Straße herzustellen.
Die Menschen versuchten, sich mit der Situation zu arrangieren, sagt Stefan Spicker. Obwohl noch immer nicht alle Strom haben, obwohl auch bis Weihnachten nicht alle in ihr Haus zurück können, das für manche gar nicht mehr existiert. Einige relativieren das eigene Schicksal im Vergleich zu anderen, die noch mehr verloren haben als sie. Abends laden der Bürgermeister und die Gemeinde zum Treffen am Pfarrheim ein. Ein Teil der gut 600 Einwohner ist ebenso dort wie die Helferinnen und Helfer. Mal wird gegrillt, mal haben die Landfrauen Schnittchen gemacht. Oder aber Ali ist da, mit seinem Wagen, auf dem er Pizza backt. Seine Pizzeria im Ort hat das Hochwasser zerstört. Zusammen sorgen sie für etwas Ablenkung, etwas entspannte Gemeinsamkeit statt Notgemeinschaft.
Ein Stückchen Normalität
Ein Stückchen Normalität kehrt zurück. Teils wird der Müll wieder sortiert. Man merkt es auch daran, dass die Brücke, die die Männer mit ihren schweren Fahrzeugen vielfach überquert haben, wegen Überlastungsgefahr gesperrt wird. Aber nur kurzfristig: Man findet eine pragmatische Lösung – die besondere Situation macht’s möglich. Und auch, dass sie durch alten Tunnel fahren, was jahrelang verboten war, weil er einstürzen könnte. Das verheerende Hochwasser hat für einen Ausnahmezustand gesorgt, für eine Phase des Einfach-mal-Machens, in der, wie Stefan Spicker feststellt, Praktiker statt Verwaltungsmenschen aktiv waren. Sie geht zu Ende.
Als die Männer jetzt zum zweiten Mal nach Bocholt zurückgekehrt sind, haben sie viele so unterschiedliche Eindrücke im Gepäck. „Die Dinge machen was mit einem. Das brennt sich ein in die menschliche Festplatte“, sagt Stefan Spicker. Die Aufbauleistung von Eltern und Großeltern nach dem Krieg werde bewusster, man erhalte „eine andere Sichtweise auf die Dinge – was wichtig ist und was nicht.“ Man merke, wie gut es einem geht, „viel zu gut in manchen Dingen“, sagt Andreas Bollwerk. Tagtägliche Aufreger seien in Wahrheit oft Banalitäten.
Vielleicht, meinen die Männer, seien sie das unkomplizierte, spontane Helfen einfach gewohnt, weil das auf dem Lande untereinander oft üblich sei. Und das verbindet mit den Menschen im Ahrtal. „Dorfkinder sind alle gleich“, findet Andreas Bollwerk, dem einer selbstgebrannten Schnaps mitgegeben hat, notdürftig in eine Plastikflasche gefüllt. Und er hat Adressen mitgebracht, mit der Aufforderung „schickt mal ein Bild, was ihr gerade so macht“. Unter anderen Hans-Josef Hüls blickt schon in die Zukunft, auf einen möglichen Urlaub im Ahrtal. Aber jetzt, zuhause, sind erstmal Mais und Getreide dran, und vor Ferien in Mayschoß oder Schuld sind dort noch viele helfende Hände gefragt. „Ich glaube, wir kommen da so ziemlich alle wieder hin“, sagt Stefan Spicker. – jf –